Dem Vektor auf der Spur - Drittes Gespräch über Vektoren

D: Je länger wir uns unterhalten, um so weniger Durchblick habe ich. In unserem letzten Gespräch wolltest du Klarheit über den angeblich so wichtigen Begriff der Verknüpfung schaffen, aber mir hat sich nachher alles im Kopf gedreht. Und in der Nacht habe ich geträumt, dass Max und Moritz mit Napoleon nach Ägypten gefahren sind, um die Pyramiden zu verknoten. Lass mich nach all dem verwirrenden Zeug den Wunsch eines jeden heranwachsenden Knaben formulieren: Ich will endlich meinen ersten Vektor sehen.

A: Also gut, lassen wir zunächst die Pyramiden in Ägypten und wenden uns stattdessen dem großen Künstler zu, der am 21. Mai seinen 531. Geburtstag hätte feiern können, wenn er ihn erlebt hätte.

D: Wer bitte ist das gewesen?

A: Albrecht Dürer!

D: Ach, das ist doch der mit den betenden Händen, dem Hasen und dem Werbebild für die Brennscherenfrisur? Was hat der mit Mathematik und Vektorräumen zu tun?

A: So viel, dass du am besten deine Kunstlehrerin mal um genauere Angaben bittest; viele Schüler, die in der Mathematik überwiegend eine Quelle von Frust oder stiller Resignation sehen, würden sich sicher gerne Dürers Kupferstich Melancholie als Hintergrund mathematischer Gespräche vorstellen, - und deswegen wollen wir einmal diesen Wunschhintergrund ansehen. Rein zufällig habe ich hier eine kleine Reproduktion. Was ist wohl das Mathematische an diesem Bild?

D: Verschiedene geometrische Körper mit den Werkzeugen zu ihrer Herstellung, Waage und Stundenglas, zwei sehr bedrohliche Symbole, genau wie die Glocke, die zeigt, was es endlich geschlagen hat, die Leiter zum Erfolg und im Hintergrund der Blitz der Erleuchtung. Und eine fliegende Ratte mit dem Intro-Banner - hey, das heißt ja gar nicht Melancholie, sondern Melencolia.

A: Ich beneide dich um deine guten Augen, aber das für uns wichtigste Detail hast du nicht gesehen.

D: Die Liedertafel unter der Glocke?

A: Das sind keine Nummern von Kirchenliedern, sondern Zahlen mit einer besonderen Eigenschaft. Sieh dir doch mal die Beziehungen dieser 16 Zahlen untereinander genau an:

D: ??

A: Bilde mal die Summe der vier Zahlen in einer Zeile und vergleiche sie mit der Summe der Zahlen in einer anderen Zeile, einer Spalte oder einer Diagonale.

D: Die Zahlen sind so mühsam zu erkennen. Ich versuche am besten, sie einmal in gut lesbare Form zu übertagen. ... Ist es so richtig? .. Ach, jetzt sehe ich es selber, das ist doch ein alter Hut, den ich aus der Informatik kenne: Ein magisches Quadrat. In Zeilen, Spalten und Diagonalen ergibt sich immer die gleiche Summe.

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A: Hier außerdem noch in den Quadranten und noch bei anderen Mustern, aber Zeilen, Spalten und Diagonalen sollen uns erst einmal genügen. Du kennst also bereits magische Quadrate, das letzte vermutlich aus der Besprechung von Goethes Faust.

D: Im Faust ist zwar vieles magisch, aber da kommen keine Quadrate, sondern nur Fünfecke vor. Im Gegensatz zur Mathematik kenne ich mich da ziemlich gut aus und kann sogar das meiste auswendig. Soll ich mal den Prolog im Himmel vortragen?

A: Dort gern, aber fang nicht schon hier auf Erden an, zu zitieren. Wenn du allerdings den Text des Dramas so gut kennst, weißt du doch, dass im Faust ein magisches 3*3 - Quadrat konstruiert und beschrieben wird.

D: Sicher auch der Zensur zum Opfer gefallen wie die Aktivitäten von Hexe und Boch in der Walpurgisnacht, - nein, in meiner Schulausgabe steht nichts davon. Außerdem finde ich, dass der Bogen zu den Vektoren mittlerweile beunruhigend weit wird.

A: Wir sind längst bei Vektoren angekommen. Nur weißt du doch mittlerweile, dass man nicht den einzelnen Vektor, sondern den gesamten Raum der Vektoren beschreibt, und einen solchen Raum bilden zum Beispiel alle magischen 4*4-Quadrate (den Dürerraum) oder alle magischen 3*3-Quadrate (den Goetheraum).

D: Goetheraum?

A: Naja, wir nennen ihn halt einfach mal so, weil Goethe in seinem Faust eines seiner Elemente konstruieren lässt.

D: Das möchte ich erst noch einmal nachlesen. Bis zur Klärung wette ich um zwei Kinokarten, dass im Faust nichts von einem magischen Quadrat vorkommt.

A: Angenommen! Und dann wird auch höchste Zeit, dass wir endlich auf die typischen Eigenschaften des Vektorraums zu sprechen kommen, egal ob es sich um den Dürerraum, den Goetheraum oder den Pharaoraum handelt, der nur aus dem Kopf der Nofretete besteht.

Ende des dritten Gesprächs über Vektoren.