Dem Vektor auf der Spur - Sechstes Gespräch über Vektoren

D: Wenn ich dich beim letzten Mal richtig verstanden habe, bilden in unserem Goetheraum die beiden Möglichkeiten zur Erzeugung weiterer Zauberquadrate die Operationsbasis im Vektorraum:

  1. Wir können aus zwei Zauberquadraten ein drittes erzeugen, indem wir in jedes der neun Felder die Summe der Zahlen in den entsprechenden Feldern der beiden gegebenen Zauberquadrate schreiben.
  2. Wir können von einem Zauberquadrat zu einem weiteren Zauberquadrat übergehen, indem wir die Zahl in jedem der neun Felder durch ihr Produkt mit einer festen Zahl (der gleichen bei allen Feldern) ersetzen.

A: Exakt! Wir haben also zwei Operationen bzw. - erinnere dich an das Verknoten der Seile - zwei Verknüpfungen. Mit der ersten gelangt man von je zwei Zauberquadraten zu einem weiteren Zauberquadrat ....

D: ... indem man die Zahlen an den entsprechenden Stellen jeweils addiert.

A: Richtig, aber darauf, wie man das macht, soll es uns im Moment gar nicht ankommen. Stell dir ruhig vor, du hältst das Verfahren zunächst geheim. Also nochmal: Wir haben zwei Operationen. Mit der ersten gelangt man von je zwei Zauberquadraten zu einem weiteren Zauberquadrat, mit der zweiten erhält man aus einer Zahl und einem Zauberquadrat ein weiteres Zauberquadrat.

D: Du sagst immer "ein weiteres Zauberquadrat". Wenn ich aber zum Beispiel das aus neun Nullen bestehende Zauberquadrat mit einem anderen nach der ersten Methode verwurste, bekomme ich doch gar kein neues, sondern nur das, was ich bereits als zweites verwendet habe ...

A: ... und wenn du bei der zweiten Operation als Zahl 1 wählst, erhältst du ebenfalls nichts Neues. Es ist also nicht verlangt, dass das Ergebnis der Operation etwas Neues ist, es muss lediglich wieder ein Zauberquadrat sein.

D: Bei diesen beiden Beispielen fällt mir auf, dass gewisse Erinnerungen an das Rechnen mit den ganz normalen Zahlen geweckt werden: 1 und 0 sind doch ganz besondere Kandidaten unter den reellen Zahlen.

A: Inwiefern?

D: Bei der Multiplikation mit 1 ändert sich gar nichts, bei der Multiplikation mit 0 dagegen um so mehr, je größer der zweite Faktor ist, denn es kommt immer null heraus.

A: Wegen der letztgenannten Eigenschaft heißt die Zahl null ja auch absorbierend bezüglich der Multiplikation in den reellen Zahlen. Und die Zahl 1 heißt neutral bezüglich der Multiplikation in den reellen Zahlen.

D: Aber die Null verändert doch manchmal auch nichts, zum Beispiel beim Addieren.

A: Richtig, deswegen sagt man ja auch, dass die Zahl null neutral bezüglich der Addition ist.

D: Dann verhält sich ja das Zauberquadrat aus lauter Nullen bei unserer ersten Operation wie die 0 bei der Addition und die Zahl 1 so, wie wir es von der Multiplikation gewöhnt sind.

A: Und das nehmen wir zum Anlass, die erste Operation als Addition und die zweite Operation als Multiplikation zu bezeichnen.

D: Einfach so?

A: Einfach so. Wir hätten die erste Operation auch als magische Primäroperation und die zweite als magische Sekundäroperation bezeichnen können, aber da für Zauberquadrate auch Addition und Multiplikation noch nicht erklärt sind, nehmen wir diese Namen, weil sie uns an das erinnern, was bei den Operationen im Einzelnen zu tun ist.

D: Also können wir jetzt zwei Zauberquadrate addieren und wir können eine reelle Zahl mit einem Zauberquadrat multiplizieren. Und jetzt mache ich noch einen guten Vorschlag: Wir können auch zwei Zauberquadrate miteinander malnehmen.

A: Und wie soll das gehen?

D: Entsprechend der Addition: Wir schreiben in jedes Feld beim Ergebnis das Produkt der Zahlen, die in den beiden entsprechenden Feldern der Faktor-Zauberquadrate stehen.

10
2
3
0
7
8
5
6
4
1
2
5
0
5
3
7
1
0
10
4
15
0
35
24
35
6
0
Aus und erhalte ich durch Multiplikation

Moment mal! Beim Ergebnis ist Summe in der ersten Zeile 29, in der zweiten Zeile ergibt sich 59: Das ist ja überhaupt kein Zauberquadrat.

A: Das hat erstens außer dir auch niemand vermutet, und das ist zweitens völlig unwichtig. Bei einem Vektorraum interessieren wir uns nur für die Addition der Elemente und die Multiplikation mit reellen Zahlen. Ob man sinnvoll auch so etwas wie ein Produkt von Elementen des Vektorraums definieren kann, ist uns total gleichgültig.

D: Aber wo wir doch gerade so kreativ sind! Vielleicht lassen wir uns hier die Chance zu einer interessanten Definition entgehen und müssen das Produkt nur einfach anders erklären. Wenn dein Land der Mathematik wirklich so frei ist, wie du behauptest hat, warum können wir dann nicht noch eine Reihe anderer Operationen erfinden?

A: Das kannst du natürlich tun, deiner Phantasie sind insofern wenige Grenzen gesetzt. Nur braucht man, wenn man sich über die Ergebnisse des eigenen Denkens mit anderen unterhalten will, eine gemeinsame Basis der Verständigung. Dazu gehören klar definierte Begriffe, mit denen jeder das Gleiche verbindet.

D: Also nicht Begriffe wie Entartete Kunst, anständiger Deutscher, Leitkultur oder Gewaltvideo?

A: So wirksam solche Begriffsbildungen im politischen Raum der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft zur breiten Mobilisierung diffuser Vorbehalte sein mögen, in der Mathematik sind wir auf präzise und das Denken anstatt die Emotionen ansprechende Begriffe angewiesen.

D: Begriffe wie Riemannsches Integrabilitätkriterium oder Satz von Taylor sprechen aber bei mir ganz schön die Emotionen an, und das ziemlich heftig.

A: Trotzdem steckt aber hinter den Begriffen ein ganz präziser Sachverhalt.

D: Andererseits ist so ein Vektorraum eine gut überschaubare Angelegenheit, wenn es darin wirklich nur um Addieren seiner Elemente und Multiplizieren seiner Elemente mit reellen Zahlen geht. Aber wie war das denn mit dem Pharaoraum, der nur aus Nofretetes Kopf bestand, oder dem Baywatch-Raum, der als einzige Pamela Anderson beherbergte. Wo sind denn da die Addition und die Multiplikation?

A: Du erlaubst, dass ich den Kopf der Nofretete mit n abkürze? Dann ist {n} der Pharaoraum.

D: Und was ist n+n oder 12 . n ? Dafür gibt es doch noch gar keine Definition.

A: Eben. Und deshalb definieren wir n + n = n und r . n = n für jede beliebige reelle Zahl r. Schon haben wir im Pharaoraum eine Addition und eine Multiplikation mit reellen Zahlen.

D: Ist das nicht ein bisschen blöd? Was können wir denn damit anfangen?

A: Vorerst noch nichts, - außer dass du nun weißt, dass in diesem Raum eine Addition und eine Multiplikation möglich ist. Und in allen Vektorräumen gelten für diese Addition und die Multiplikation mit reellen Zahlen die gleichen Rechenregeln. Alles, was sich aus diesen Regeln folgern lässt, alle Sätze und Eigenschaften, die sich aus den grundlegenden Gesetzen des Vektorraums ergeben, gelten in allen Vektorräumen.

D: Also wenn ich in einen fremden Vektorraum komme, kenne ich mich sofort aus, so wie wenn ich in einer fremden Stadt zu Aldi gehe und auch gleich alles finde, weil ich weiß, wo es beim Aldi am Opladener Autobahnzubringer steht?

A: Du meinst, wenn du zu Aldi-Süd kommst. Es ist nicht ganz genauso, aber eine gewisse Ähnlichkeit gibt es schon.

D: Dann lass uns mit unserem nächsten Gespräch nicht zu lange warten, denn dann wirst du mir sicher die Gesetze des Vektorraums erklären. Und das Ganze nur ein einziges Mal zu lernen, aber bei allen anderen Vektorräumen anwenden zu können, kommt meinem Hang zur Arbeitsminimierung außerordentlich entgegen.

A: Gut, dann werden wir uns beim nächsten Mal darüber unterhalten, wie man in Vektorräumen addieren und multiplizieren kann, und uns die Ergebnisse immer gleich mit dem Goetheraum und dem Pharaoraum klar machen.

Ende des sechsten Gesprächs über Vektoren.