Im Visier: Der Vektor - Sechzehntes Gespräch über Vektoren

D: Was mich beim Rückblick auf unsere letzten Gespräche ein wenig stört ist, dass wir unserer Menge F gar nicht ansehen können, was im Einzelfall als Argumentmenge A zu Grunde gelegt ist. Ist es in der Mathematik nicht üblich, die beteiligten Mengen klar festzulegen, ganz abgesehen davon, dass F auch für den Flächeninhalt, für das chemische Element Fluor, den Höhenfußpunkt, den Brennpunkt und vieles andere stehen könnte.

A: Deine Aufzählung macht doch schon deutlich, dass man in der Mathematik nicht immer neue Namen für neue Objekte erzeugt, sondern sich bestehender Zeichen und Wörter bedient, - wie bei den Namen für Personen ja auch: Du findest sicher in Deutschland mindestens einen weiteren Menschen mit deinen Vor- und Nachnamen.

D: Genau fünf nach der letzten Internetsuche im Telefonverzeichnis. Und es wird sicher noch weitere geben, die nur nicht als Telefonanschlussinhaber registriert sind.

A: Na siehst du.

D: Ja, aber wir unterscheiden uns doch durch Geburtsdatum, Wohnort, Blutgruppe oder Hausnummer oder vielleicht sogar durch alle diese Kennzeichen.

A: Und wirst du in deiner Klasse mit Geburtdatum und Blutgruppe aufgerufen?

D: Natürlich nicht; in meinen Kursen bin ich doch der einzige mit diesem Namen.

A: Und entsprechend deinem Kurs muss eben auch in der Mathematik der Kontext klar sein, in dem ein Name verwendet wird; dann kann er ruhig in vielen anderen Bereichen mit anderen Bedeutungen vorkommen.

D: Führt das nicht gelegentlich zu Missverständnissen?

A: Nicht nur gelegentlich, sondern häufig. So etwa, wenn aus einer symbolischen Zeichenfolge, die für einen durch Definition umrissenen mathematischen Sachverhalt steht, einzelne Bestandteile herausgebrochen und als eigenständige mathematische Objekte gedeutet werden.

D: Zum Beispiel?

A: Wenn für eine Nullfolge (an), also eine Folge mit Grenzwert 0, nur nichtnegative Glieder zugelassen sind, wird das gelegentlich durch Schreibweisen wie (an) --> 0+ ausgedrückt. Mathematische Laien entnehmen dieser Notation schon einmal die Existenz einer eigenen Zahl 0+, die von 0 zu unterscheiden ist.

D: Lustig. Aber was haben Nullfolgen mit Vektorräumen zu tun?

A: Immerhin bildet - wie wir noch sehen werden - die Menge aller reellen Nullfolgen einen Vektorraum, aber das war jetzt ja nicht der Grund der Erwähnung. Um auf deine Frage zurückzukommen: Natürlich muss bei der Einführung von Objekten durch genauen Text oder exakte Notation klar sein, wovon man redet. So bezeichnet man die Menge aller Funktionen mit Argumentmenge A und Werten in der Menge B als BA.

D: Aha, also wäre unsere Menge F auch als RA zu notieren?

A: Ja, und wenn die Funktionswerte komplexe Zahlen sein dürfen, haben wir CA...

D: .. und wenn die Funktionswerte rationale Zahlen sein dürfen, haben wir QA ?

A: Im letzten Fall haben wir allerdings keinen Vektorraum in unserem bisher verwendeten Sinn, sondern einen Vektorraum über dem Körper Q.

D: Körper?

A: Ein Körper ist eine algebraische Struktur K mit einer Addition und einer Multiplikation, in der das Distributivgesetz gilt, wobei (K,+) und (K\{o},.) kommutative Gruppen sind; mit o habe ich dabei das neutrale Element der Addition bezeichnet.

D: Nun ja, das muss wohl nicht auch noch sein. Können wir uns vielleicht bitte doch bei den Vektorräumen auf den K ö r p e r der reellen Zahlen beschränken?

A: Dann verzichten wir zwar auf eine nützliche Allgemeinheit, aber gut: Unser Ansatz war ja auch entsprechend speziell. Also ist unser betrachteter Vektorraum F stets von der Form RA.

D: Und was wählen wir als Argumentmenge A?

A: Die soll ja eigentlich allgemein bleiben. Aber zur Veranschaulichung schlage ich vor, dass wir ein jeweils einfaches, ein interessantes und ein dir vertrautes Beispiel wählen. Einfach ist es sicher, wenn A eine endliche Menge ist. Die Anzahl der Elemente von A nennen wir dann n, dann kann man als A zum Beispiel {1,2,3,...,n} wählen; wir haben in diesem Fall F = R{1,2,3,...,n}.

D: Ist das nicht auf die Dauer eine ziemlich lästige Schreibweise für einen "einfachen" Vektorraum?

A: Deswegen schreiben wir in Zukunft statt R{1,2,3,...,n} auch kürzer Rn.

D: Das geht aber nicht. Mit R2 und R3 haben wir in der Schule die Mengen von Pfeilen in der Ebene und im Raum bezeichnet. Du hast doch irgendwann einmal die Deutbarkeit der Vektoren durch Pfeile bestritten. Oder besteht da doch ein Zusammenhang?

A: So ist es, aber bis der klar wird, dauert es noch einige Zeit. Beim nächsten Mal wollen wir nämlich zunächst die anderen Varianten der Argumentmenge A betrachten.

Ende des sechzehnten Gesprächs über Vektoren.