Im Visier: Der Vektor - Dreiundzwanzigstes Gespräch über Vektoren

D: Ganz ist mir auch nach längerem Nachdenken noch nicht klar, wann bei innerhalb einer Linearkombination ein Vektor mehrfach auftreten oder nur einmal vorkommen darf. Z.B. ist 3f + 5g eine Linearkombination der Vektoren f und g; ist denn auch f + 5g + 2f eine Linearkombination von f und g oder ist das eine Linearkombination von f, g und f?

A: Das ist eigentlich nicht sehr wichtig, zumal du ja beide Ausdrücke sich nur optisch, aber nicht im Wert unterscheiden. Wenn du die Vektoren der Menge {f, g} linear kombinierst, kannst du allerdings formal nur den ersten Ausdruck erhalten, da die Menge {f, g, f} nur aus diesen beiden Elementen f und g besteht.

D: Und falls f = g ist, handelt es sich in beiden Fällen nur um eine fehlerhafte Schreibweise der Menge {f}?

A: Das mag dir als wesentliche Frage erscheinen, aber bei einem minimalen Erzeugendensystem mit zwei Elementen sind diese natürlich verschieden. Im Falle endlicher oder abzählbarer Erzeugendensysteme ordnet man allerdings meistens die Vektoren des Systems in einer endlichen bzw. unendlichen Folge an; wenn man umgekehrt von einer solchen Folge von Vektoren ausgeht, bei der die Menge der Glieder ein Erzeugendensystem eines betrachteten Vektorraums bildet, werden automatisch alle vorkommenden Vektoren nur einmal berücksichtigt.

D: Sind denn Erzeugendensysteme nun Mengen oder Folgen?

A: Das kommt auf den vorliegenden Vektorraum und den Anwendungszweck an. Einerseits ist es zweckmäßig, von einem ersten, einem zweiten, usw. Vektor des Erzeugendensystems sprechen zu können; dann muss eine Folge vorliegen. Andererseits ist eine solche Anordnung in einer Folge nicht immer leicht oder sogar - bei nicht abzählbaren Erzeugensystemen - unmöglich. Im allgemeinen wählt man die Mengenschreibweise und meint im Bedarsfall die Folge, damit man auch z.B. beim Erzeugendensystem {a, b, c} etwa b als zweiten Vektor des Systems ansprechen kann.

D: Widerspricht das nicht der in der Mathematik verlangten Klarheit und Eindeutigkeit von Definitionen.

A: Vielleicht. Aber auch in der Mathematik scheut man Aufwand, der deshalb überflüssig ist, weil alle auch so wissen, was gemeint ist.

D: Das passt jetzt aber gar nicht in mein Bild von der Mathematik.

A: Spricht denn dein Lehrer nie zum Beispiel von der Funktion x.ex, hat er nicht vielleicht sogar schon einmal so etwas wie (x.ex)' geschrieben, wenn er die Ableitung meinte? Dabei ist x.ex doch bloß ein Rechenausdruck mit einer Variablen; und einen Term kann man auch nicht ableiten, sondern nur eine Funktion.

D: Also war das falsch?

A: Diese Frage habe ich dir vor einiger Zeit bei einem ähnlichen Beispiel schon einmal beantwortet. Es war deinem Lehrer halt zu langwierig, von der "auf R definierten Funktion, die jeder reellen Zahl x den Wert x.ex zuordnet." zu sprechen. Und einen eigenen Namen wollte er der Funktion auch nicht geben, nur um dann eine korrekte Notation für die Ableitungsfunktion zu haben. Man erwartet eben, dass der Hörer oder Leser jeweils mitdenkt, - wie man ja z.B. aus den elementargeometrischen Aussagen "Punkt P liegt auf AB" und "AB = 5cm" auch nicht schließt, dass P auf 5cm liegt.

D: Und mein Bild von der Mathematik war immer das der absoluten Präzision.

A: Das trifft auch zu. Aber diese Präzision siedelt - wie das für eine reine Geisteswissenschaft angemessen ist - in den Gedanken des Mathematikers. Und wenn man davon ausgehen kann, dass diese Gedanken richtig sind, darf man sie ruhig einmal unscharf ausdrücken.

D: Aber ist das nicht eine Quelle von Fehlern und Missverständnissen? Man kann doch nicht sicher sein, dass die erhoffte Präzisierung aufgrund des entsprechenden Verständnisses immer beim Zuhörer stattfindet.

A: Das ist allerdings stets das Risiko. Aber die Mathematiker beurteilen die im Verbalen erforderliche Klarheit eben unterschiedlich. Nach meiner persönlichen Überzeugung ist es allerdings für das Verständnis des Lernenden hilfreich , wenn grundsätzlich und möglichst kompromisslos auf sprachliche Exaktheit geachtet wird. So erscheint es mir misslich, wenn - wie leider verbreitet - von Wendepunkten von Funktionen oder Nullstellen von Graphen gesprochen wird.

D: Was stört dich denn daran?

A: Die sprachliche Vermischung von algebraischen und geometrischen Objekten; Wendepunkte und Graphen sind geometrische, Funktionen und Nullstellen sind algebraische Objekte.

D: Aber war es nicht das Verdienst von Descartes und seinen Nachfolgern, dass die Geometrie algebraisch beschreibbar wurde. Und hat Dieudonné nicht in seinem berühmten Vortrag "Euklid must go" nicht sogar verlangt, die Geometrie ganz durch zweidimensionale Vektoralgebra zu ersetzen?

A: Jetzt bin ich aber beeindruckt von deinen Kenntnissen. Lernt man das heute auch im Mathematikunterricht der Schule?

D: Eigentlich war das ein Referat, was eine Mitschülerin im Kurs gehalten hat; ich konnte ihr dabei ein wenig helfen, zumal unsere Beziehungen damals recht intensiv waren. Aber auch unser Lehrer weist immer wieder darauf hin, dass man im Grunde über das gleiche redet, auch wenn man es algebraisch oder geometrisch ausdrückt. Und beim Nachschlagen zum Stichwort "Graph" habe ich sogar einmal gelesen, dass sei eine Teilmenge eines kartesischen Produktes, also wohl doch etwas Algebraisches.

A: Trotzdem dient es der Begriffsklarheit, wenn man deutlich macht, ob man sich sprachlich in der Algebra oder der Geometrie befindet. Du kannst Skat mit einem französichen Blatt oder einem deutschen Skatblatt spielen, aber du wirst sie kaum vermischen und den Herz-Unter neben dem Kreuz-König verwenden.

D: Aber theoretisch könnte man das doch tun.

A: Wenn man das Risiko von Verwirrung gering halten will, wird man von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch machen. Vergleich es doch mal mit verschiedenen Sprachen: Ob du sagst "Füttere den Adler" oder "Feed the eagle" mag auch gleichgültig sein, aber zu sagen "Füttere den eagle" ist nicht nur wegen des akustisch bedingten Missverständnisses wenn nicht gar unkorrekt, so doch mindestens unschön.

D: Ja, aber ist jetzt auch noch Schönheit ein Kriterium in der Mathematik?

A: Für die Mathematik selbst vielleicht nicht, für die Mathematik-Betreibenden aber sehr wohl. Einige meinen sogar, dass man nirgends außerhalb der Mathematik so vollkommene Schönheit findet; aber das führt jetzt wirklich zu weit weg.

D: Dem werden nun wirklich wohl nur wenige folgen können. Allerdings ist mir aufgefallen, dass der Vektorraum - und zwar nicht ein bestimmter wie die Menge der stetigen Funktionen - sondern der Vektorraum an sich für mich während unserer Gespräche nicht nur interessanter geworden ist, sondern dass mir auch die speziellen Beispiele immer weniger wichtig erscheinen, während mir dafür der abstrakte Vektorraum mit seinen einfachen und doch logisch so weit führenden Axiomen zunehmend vertrauter und sympathischer geworden ist.

A: Jetzt übertreibst du aber ziemlich heftig. Andererseits: Vielleicht hast du wirklich wenigstens einen Abglanz von mathematischer Schönheit verspürt.

D: Zumindest habe ich die Ahnung bekommen, dass es neben der Schönheit, die man sehen, hören oder fühlen kann auch so etwas wie eine Schönheit im Abstrakten gibt.

A: Und du bist nicht enttäuscht, dass wir gar nicht über Geometrie gesprochen haben, und dass die meisten der Begriffe, die du aus der Vektorrechnung der Physik kennst und demnächst auch im Mathematikunterricht kennenlernen wirst, wie Skalarprodukt, Orthogonalität, Norm, Basis in unseren Gesprächen gar nicht vorgekommen sind?

D: Ein wenig hat mich - wo wir jetzt am Ende sind - gewundert, dass dein als besonders einfaches Beispiel eingeführter Vektorraum Rn der n-gliedrigen Folgen in unseren Gesprächen so gut wie keine Rolle mehr gespielt hat, wo du doch angedeutet hattest, dass gerade dieser Raum unser schulisches Thema werden würde.

A: Dann werden wir eben später noch eine dritte Runde unserer Vektorraumgespräche anschließen, in der wir auch den vernachlässigten Raum Rn in angemessener Weise würdigen und überhaupt noch einige wesentliche Lücken füllen. Bis dahin wünsche ich dir zunächst einmal eine gute Zeit.

Ende des dreiundzwanzigsten Gesprächs über Vektoren.