Dem Vektor auf der Spur - Achtes Gespräch über Vektoren

D: Durch die Wartezeit hast du mich richtig gespannt auf den fünften Test gemacht, den eine als Addition bezeichnete Verknüpfung in einer Menge bestehen muss, damit ein Teil der Bedingungen für einen Vektorraum erfüllt ist.

A: Das hast du richtig schön formuliert. Sag das einmal so einem deiner Mitschüler und du wirst an der Reaktion spüren können, wir irritierend Präzision auf unvorbereitete Seelen wirkt. Aber es war natürlich absolut korrekt.

D: Dann rekapituliere ich weiter. Die vier bisher genannten Bedingungen für die zu untersuchende Menge M waren:

1. Die Menge M ist bezüglich dieser Addition abgeschlossen.
2. In M erfüllt die Addition das Kommutativgesetz.
3. In M erfüllt die Addition das Assoziativgesetz.
4. Es gibt in M ein Element, das bezüglich der Addition neutral ist. Wir bezeichnen dieses Element als den Nullvektor in M.

A: Fällt dir eigentlich auf, dass diese Festlegung eine unausgesprochene Voraussetzung enthält?

D: Was für eine Voraussetzung? Es werden Eigenschaften aufgezählt, die sich an allen unseren Beispielen leicht nachprüfen ließen. Der Goetheraum erfüllt alle vier Bedingungen, der Pharaoraum ebenso, und sogar mein bereits fast aufgegebener Naturraum {1, 2, 4, 8, 16, 32, 64, 128, 256, 512, 1024 } mit der Bildung des größten gemeinsamen Teilers als "Addition" hat bisher alle vier Tests bestanden. Die Eigenschaften bestehen oder sie bestehen nicht: Was sollte hier unausgesprochen vorausgesetzt werden?

A: Na dann führen wir einmal eine Bezeichnung in deiner Stufe ein: Wir bezeichnen denjenigen als den Platzhirsch, dessen Einladung zu einer extrem kurzfristig angesetzten Fete von mindestens vier Mädchen befolgt wird.

D: Das geht in meiner Stufe gar nicht, denn es kann in einem Rudel immer nur einen Platzhirsch geben; bereits auf eine Einladung von mir würden mindestens sechs ...

A: Dein privater Erfolg in irrationalen Bereichen ist hier weniger wichtig als deine Erkenntnis, dass man auch bei Definitionen gewisse Regeln beachten muss. Wer sagt dir denn, dass in einem Vektorraum nicht plötzlich ein unscheinbares Element aus einer Nische hervorkommt, sich gegenüber dem bisher allgemein anerkannten Nullvektor aufbaut und sagt "Auch ich bin ein neutrales Element!" ?

D: Welches sollte das denn sein? Im Pharaoraum ist nichts außer Nofretetes Kopf, und im Goetheraum kann doch nur das Zauberquadrat mit null in allen neun Feldern neutral sein. Stände in irgendeinem Feld eine andere Zahl als null, würde doch bei der Addition zu einem anderen Zauberquadrat z zumindest in diesem Feld etwas anderes als bei z herauskommen, also kann es nur dieses eine neutrale Element geben.

A: Das überschaust du, weil die Addition bei den Zauberquadraten so durchsichtig definiert worden ist. Aber kannst du bei einer vielleicht sehr kompliziert erklärten Addition in einem wilden und unüberschaubaren Vektorraum sicher sein, dass es nicht mehrere neutrale Elemente gibt, so dass man keine Berechtigung hat, von dem Nullvektor zu sprechen?

D: Dann beschränken wir uns eben einfach auf die überschaubaren Räume.

A: Das wollen wir doch gerade nicht, denn dann gelten die Ergebnisse unserer Überlegungen auch nur für die uns vertrauten Spezialfälle und nicht unbedingt allgemein.

D: Aber was kann man über einen Raum sagen, von dem man nichts weiß, außer dass er mit einer - wie auch immer definierten - Addition die Tests 1 bis 4 bestanden hat.

A: Wir können beweisen, dass die Existenz von mehr als einem neutralen Element unmöglich ist.

D: Ohne den Raum zu kennen, von dem wir reden?

A: ... und ohne die Definition der Addition in diesem Raum zu kennen.

D: Wenn ich mit dem Zauberquadrat im Faust nicht so übel reingefallen wäre, würde ich ja dagegen wetten, aber mittlerweile bin ich vorsichtig geworden: Ich glaube zwar wenig, halte aber fast alles für möglich. Also: Lass mich nicht dumm sterben.

A: Stell dir vor, n sei ein als neutral nachgewiesenes Element und m ist ebenfalls neutral. Was folgt daraus?

D: Falls deine Behauptung stimmt, bedeutet das, dass einer von beiden lügt.

A: Nein, wir wollen wirklich davon ausgehen, dass n und m beide neutrale Elemente sind. Was kann man daraus schließen?

D: Sag es mir bitte.

A: Wenn n neutral ist, was ist dann der Wert der Summe n + m ?

D: Natürlich m, denn das neutrale Element n verändert ja bei der Addition den anderen Summanden nicht.

A: Jetzt ist aber doch auch m neutral. Wenn du das beachtest, was ergibt dann die Addition n + m?

D: Dann erhalte ich n; aber Moment mal: Das Ergebnis der Verknüpfung soll doch eindeutig bestimmt sein, so dass nicht mal das eine und mal etwas anderes herauskommen kann. Dann müssten also n und m gleich sein.

A: Siehst du, genau das wollten wir zeigen: Wenn n und m beide neutral sind, können sie nicht verschieden sein. Es kann also höchstens ein neutrales Element geben. Und da nach dem positiven Test Nr. 4 ein neutrales Element existiert, muss es das einzige sein. Wir dürfen es daher als den Nullvektor bezeichnen.

D: Ein bisschen kommt mir das vor wie ein Zaubertrick, aber ich erkenne im Moment nicht, wo der doppelte Boden ist. Ich sehe nur, dass du deiner Ankündigung nicht gefolgt bist: Noch immer liegt im Dunkeln, was beim fünften Test überprüft wird.

A: Dann warten wir, bis es wieder hell wird, und lüften dann den Schleier, der über dem fünften Test liegt.

D. Mit anderen Worten: Die Ungewissheit, ob mein schöner Raum mit den ersten zehn Zweierpotenzen und der ggT-Bildung als Addition auch den fünften Test bestehen wird, soll mich weiter quälen.

A: Du kannst ja schon mal ein paar passende Abschiedsworte einüben. Denn der fünfte Test - darauf stell dich mal ein - lässt deinen Naturraum so geeignet als Vektorraumkandidaten aussehen wie den grünen Kobold nach seiner unfreiwilligen Selbstperforation zum Looping-Drehen; - aber das ist eine ganz andere Geschichte.

Ende des achten Gesprächs über Vektoren.