Im Visier: Der Vektor - Dreizehntes Gespräch über Vektoren

A: In der Hitze des Sommers hast du gewünscht, Erholung und Kühlung im Vektorraums zu finden. Möchtest du das immer noch?

D: Aber klar doch! Ich habe jetzt zwar begriffen, was ein Vektorraum ist, und erkenne seine Struktur gleichermaßen im Goetheraum wie im Pamela-Anderson-Raum und habe auch verstanden, wie aus der Menge der positiven reellen Zahlen ein Vektorraum zu machen ist, aber deine Feststellung, die Welt sei voll von Vektorräumen, hat für mich ihren hypothetischen Charakter noch nicht verloren. Denn in meinem Mathematikunterricht hatte ich weder mit magischen Quadraten zu tun noch wurden eigenwillige Additionen oder Pseudo-Multiplikationen mit reellen Zahlen betrachtet. Wir haben uns seit Beginn der Stufe 11 fast nur mit der Untersuchung von Funktionen und ihren Eigenschaften beschäftigt, - aber das gehört ja wohl zur Analysis und hat mit Vektorräumen nichts zu tun.

A: Mehr als du im Augenblick denkst. Bleiben wir beim Beispiel deiner Funktionen und betrachten einmal die Menge aller Funktionen mit einer gemeinsamen Argumentmenge A.

D: Meinst du mit A das, was bei uns Definitionsbereich heißt und meistens ein Intervall ist?

A: Die Wahl der Argumentmenge - oder des Definitionsbereichs - ist für unsere Überlegungen ganz beliebig. Wichtig ist nach der Festlegung auf eine Argumentmenge A nur, dass wir alle Funktionen mit reellen Werten betrachten, die auf der Menge A definiert sind. Die Menge dieser Funktionen wollen wir einmal mit F bezeichnen.

D: Also könnten wir zum Beispiel A = R wählen und hätten dann mit Exponentialfunktion, der Sinusfunktion und der Kehrwertfunktion drei der Elemente von F?

A: Für exp und sin trifft das zu, aber die Kehrwertfunktion ist an der Stelle 0 nicht definiert, gehört also nicht zu F.

D: Aha, also cos gehört zu F, aber nicht ln, weil die Logarithmusfunktion nur im positiven Bereich definiert ist.

A: Richtig; außerdem gehören neben vielen anderen die Betragsfunktion und alle ganzrationalen Funktionen zu F.

D: Das ist klar. Wenn A die Menge der nicht-negativen reellen Zahlen ist, gehört die Wurzelfunktion zu F. Aber was hat jetzt F mit einem Vektorraum zu tun?

A: F ist ein Vektorraum, wenn du als Vektorraumverknüpfungen die übliche Addition von Funktionen und die übliche Multiplikation von Funktionen mit reellen Zahlen nimmst.

D: Was heißt hier "übliche Definition?".

A: Eine Funktion ist erklärt durch Angabe von Argumentmenge und Zuordnungsvorschrift. Wenn f und g zwei Funktionen aus F sind und r eine reelle Zahl ist, dann werden die Funktionen f + g und rf mit Argumentmenge A erklärt durch

(f + g)(x) := f(x) + g(x) und (rf)(x) := r f(x) für alle x aus der Argumentmenge A.

D: Das ist doch die übliche Definition.

A: Eben. Was aber oft nicht üblich ist, das ist die Betrachtung der Funktion als Objekt. Oft wird noch nicht einmal in der Schreibweise zwischen der Funktion und ihrem Wert an einer Stelle x unterschieden, obwohl das eine ein Element von F und das andere ein Platzhalter für eine reelle Zahl ist. Wir müssen aber sehr deutlich zwischen f und f(x) unterscheiden.

D: Dann ist es also falsch, wenn mein Mathematiklehrer von der "Funktion x3+2x2" spricht, weil das ja keine Funktion, sondern ein Ausdruck für den reellen Wert an der Stelle x ist?

A: Sprechweisen sind in der Mathematik häufig ein Kompromiss zwischen Exaktheit und Sprachökonomie. Wir müssen ja auch zwischen einem Winkel als Punktmenge und seiner Größe, zwischen einer Strecke als Punktmenge und ihrer Länge unterscheiden, trotzdem ist aber die Verwendung einer gemeinsamen Bezeichnung üblich, wenn keine Missverständnisse möglich sind. So haben die Begriffe Höhe im Dreieck oder Radius eines Kreises je nach Kontext die Bedeutung als Punktmenge oder als Längenangabe. Und wenn dein Lehrer von der Funktion x3+2x2 spricht, dann meint er die auf ganz R definierte reellwertige Funktion, die an der Stelle x den Wert x3+2x2 hat.

D: Und warum sagt er das dann nicht auch?

A: Weil ihm das zu lang ist und weil er davon ausgeht, dass ohnehin alle wissen, was gemeint ist.

D: Aber hat er dabei nicht eine grundsätzlich falsche Vorstellung von dem, was seine Schüler wissen und verstehen?

A: Vielleicht,- aber das ist die Standardsituation im Mathematikunterricht.

D: Und ich soll jetzt wohl aus dem Stand zeigen, dass im Gegensatz dazu deine Vorstellung von meinem Verständnis für den Vektorraum zutrifft, und nachweisen, dass diese Menge F mit den angegebenen Operationen ein Vektorraum ist?

A: Das hast du richtig vermutet. Aber ein wenig Zeit gebe ich dir schon noch, zumal du ja erst einmal die zu überprüfenden Vektorraumaxiome in deine Erinnerung zurückrufen musst. Beim nächsten Mal berichtest du mir dann vom Erfolg: Also, welche Eigenschaften machen einen Vektorraum zu einem solchen, und warum ist dann speziell F mit der üblichen Addition und Multiplikation mit reellen Zahlen ein Vektorraum?

Ende des Dreizehnten Gesprächs über Vektoren.

- Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden...
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

(H. Hesse: Stufen)