Im Visier: Der Vektor - Einundzwanzigstes Gespräch über Vektoren

D: Dein Auftrag am Ende unseres letzten Gesprächs lautete, einen Vektorraum V und eine Teilmenge T von V zu finden, in der sich die Summe der Summe von zwei Elementen nicht als Summe von zwei Elementen und auch nicht als Vielfaches eines Elements von T darstellen lässt. Als V habe ich unseren alten Ausgangsraum F mit A=R, also RR gewählt, T soll die Menge der Potenzfunktionen sein.

A: Also die Menge der Funktionen mit einem Funktionsterm der Form xn mit festem n aus N.

D: Dann lässt sich z.B. die ganzrationale Funktion f mit der Gleichung f(x) = x + x2 +x3 + x4 zwar als Summe zweier Summen von Elementen von T, aber nicht als Summe von zwei Elementen von T darstellen. Andererseits bildet die Menge der ganzrationalen Funktionen einen Vektorraum, da die vier Vektorunterraumbedingungen offenbar erfüllt sind.

A: Und wie kann man - um bei deinem Beispiel zu bleiben - die ganzrationalen Funktionen aus den Potenzfunktionen erzeugen.

D: Man multipliziert einige Potenzfunktionen mit gewissen reellen Zahlen und bildet dann die Summe. Ein Vektorraum, der T umfasst, muss aufgrund der Abgeschlossenheit gegenüber den Vektorraumoperationen dann auch diese Funktion als Element enthalten.

A: Man nennt eine solche Summe, die sich dadurch ergibt, dass man Vielfache von Vektoren f1, f2, f3, ..., fn addiert, eine Linearkombination der Vektoren f1, f2, f3, ..., fn. Und wie du ganz richtig sagst, enthält ein Vektorraum alle Linearkombinationen seiner Elemente.

D: Und erhält man umgekehrt auch immer einen Untervektorraum, wenn man zu einer beliebigen Teilmenge T eines Vektorraums V die Menge aller Linearkombinationen von Elementen aus T bildet?

A: Na klar; das beweist du unmittelbar mit dem Unterraumkriterium.

D: Jetzt habe ich dich aber beim Vergessen eines Sonderfalls erwischt. Hast du nicht vor einiger Zeit gesagt, dass man auch pathologisch erscheinende Fälle berücksichtigen müsse?

A: Da hast du recht.

D: Dann bist du jetzt deinen eigenen Anforderungen nicht gerecht geworden. Denn wenn du als Spezialfall für T die leere Menge nimmst, dann kannst du gar keine Linearkombinatinen mit Elementen von T bilden, bleibst also bei der leeren Menge. Und die bildet ja, wie du mir eindringlich klargemacht hast, wegen Nichterfüllung von Vektorraumaxiom (3.1) keinen Vektorraum.

A: Aber der Nullvektor gehört immer zur Menge der Linearkombinationen aus einer Teilmenge eines Vektorraums V.

D: Du meinst wegen 0.f = o für irgendeinen Vektor f aus T. Aber ein solcher Vektor f existiert eben nicht in der leeren Menge.

A: Das braucht er auch nicht. Wir betrachten bezüglich der Addition in V die leere Summe. Deren Summanden liegen alle in T, da kein Summand benötigt wird.

D: Spielst du jetzt jüdisches Poker mit der Trumpfkarte Ben Gurion? Von einer leeren Summe habe ich noch nie etwas gehört. Eine Summe ist das Ergebnis einer Addition von zwei oder mehreren Summanden, also müssen Summanden da sein!

A: Hast du im Fach Informatik schon einmal eine endliche Folge von Zahlen aufsummieren müssen.

D: Natürlich, das ist doch eine der ersten Übungen.

A: Und mit welchem Wert initialisiert man die Variable für die Summe?

D: Natürlich mit 0, genau wie man bei der Multiplikation die Variable für das Produkt auf den Anfangswert 1 setzt.

A: Also solange die Summe noch leer ist, gibst du ihr den Wert 0.

D: Ja, aber das ist ja eben noch keine Summe.

A: Es ist aber - wie du siehst - durchaus zweckmäßig, einen Summenspeicher auf den Anfangswert null zu setzen. Man möchte in der Mathematik gerne auch bei so einfachen Operationen wie dem Addieren bestimmte Regeln ohne Sonderfälle anwenden können. Eine davon ist, dass bei einer Zerlegung einer Indexmenge in zwei disjunkte Teilmengen die Summation über der gesamten Indexmenge sich durch Addition der beiden über den Teilmengen der Indexmenge gebildeten Summen ergibt. Und das funktioniert nur, wenn man der Summe über der leeren Menge als Wert das neutrale Element der Addition zuweist.

D: Aber man könnte stattdessen doch auch die leere Menge als Indexmenge verbieten.

A: Erstens gibt es noch viele weitere Gründe und außerdem ist es ja gerade ein Ziel der Mathematik, durch zusätzliche Definitionen den Gültigkeitsbereich von Aussagen möglichst auszudehnen, - erinnere dich nur an die Begründungen für die Einführung von negativen und rationalen Exponenten bei der Potenzrechnung.

D: Na gut, und warum kommt bei der Addition über der leeren Menge T dann o und nicht die Zahl 0 heraus?

A: Weil unsere Addition die Addition im Vektorraum V ist, - und das bezüglich dieser Addition neutrale Element ist der Nullvektor o.

D: Hm, dann hab ich dich halt doch nicht bei einer Lücke erwischt. Also: Die Menge aller Linearkombinationen von Elementen einer Teilmenge T eines Vektorraums V bildet immer einen Vektorraum, - und zwar in dem Sinne den kleinsten T umfassenden Untervektorraum von V, dass er Teilmenge jedes T umfassenden Untervektorraums von V ist.

A: Diese Eigenschaft ist eine typische "Hülleneigenschaft". Eine Abbildung &, die jeder Teilmenge T eines betrachteten Raumes X eine Teilmenge von X so zuweist, dass T Teilmenge von &(T) ist und erneutes Anwenden von & zu keiner Erweiterung der Menge führt, wird als Hüllenoperation bezeichnet.

D: Beispiele?

A: Ergänzt man eine Teilmenge T von R um die Häufungspunkte von T, erhält man die sogenannte "abgeschlossene Hülle" von T. Diese umfasst T und ändert sich durch erneute Hinzunahme ihrer Häufungspunkte nicht mehr, da sie - wie du vielleicht gelernt hast - topologisch abgeschlossen ist, also alle Häufungspunkte enthält. Und in der Raumgeometrie erhält man die "konvexe Hülle" einer Figur T, indem man die Punkte aller Verbindungsstrecken von Punkten aus T zu T hinzunimmt. Dann ist T Teilmenge seiner konvexen Hülle und diese verändert sich beim erneuten Übergang zur konvexen Hülle nicht mehr.

D: Und wie nennt man dann die Hülle, die man aus T durch Hinzunahme aller Linearkombinationen von Vektoren aus T erhält? Vielleicht die linearkombinierte Hülle?

A: Fast; man bezeichnet den so erhaltenen Vektorraum als lineare Hülle von T.

Ende des einundzwanzigsten Gesprächs über Vektoren.